Alt bedeutet noch lange nicht tot: Das Videospiel von früher lungert immer noch in der Gegenwart herum und blickt hartnäckig in die Zukunft. Denn das «Retro-Game» steckt in den Zellen neuer Spiele fest und bricht immer wieder aus.
Sobald ein Videospiel zu wenige Pixel hat und mit einer niedrigen Jahreszahl verwandt ist, tauchen sofort die Begriffe «alt», «klobig», «verwaschen» und «retro» auf. Dass ein Videospiel wegen seines hohen Alters als «retro» abgetan wird, ist aber ein moderner Trugschluss. Denn auch neue Spiele können retro sein, genauso wie alte Spiele modern sein können.
Modern Modern, Retro Modern, Retro Retro. Schwarzweiss funktioniert hier nicht. Das beweisen die Videospiele selbst – und Marco Röllin, Mitgründer des interaktiven Spielemuseums Gameorama in Luzern.
Dragon Quest (1986), Pokémon Gold und Silber (2001), Anno 1602 (1998) zählen wohl zu den kultigsten Spielen vor unserer Zeit. Früher einmal angesagt, gelten sie heute als nostalgische Erinnerung. Doch selbst wenn du diese Spiele noch nie gespielt hast und gleich jetzt aufstarten würdest, würden sie sich anders anfühlen als ihre zeitgenössischen Pendants.
So wird es sich jedenfalls erzählt. Aber stimmt das überhaupt? Lassen sich Videospiele einteilen in alt und neu / bis 1995 und ab 1995 / hässlich und schön / verspielt und cineastisch?
Ein flüchtiger Blick in die Videospielgeschichte lässt daran zweifeln. Denn Retro-Games gibt es auch heute noch und nicht nur als skurrile Überbleibsel nostalgischer Nerds. Sondern als kommerziell erfolgreiche Titel, die auch Kritiker*innen überzeugen.
Retro-Games sind also, seit es Videospiele gibt, angesagt. Aber was ist denn nun ein Retro-Game und was nicht? Gibt es einen Unterschied zwischen retro und nicht-retro? Marco Röllin legt mit zwei Stichpunkten den Grundstein für eine breite Auseinandersetzung mit der Frage:
"1. Einen Unterschied gibt es in der Grafik und im Sound. […]"
"2. Und der Spielmechanismus ist oftmals einfacher in einem Retro-Game. Da ist es ist für mich meist entspannender […] als ein zeitgenössisches Spiel."
Grafik und Sound hängen direkt mit der Kapazität der Systeme zusammen. Die Rechenleistung aktueller Konsolen übertrifft jene von vor zwanzig Jahren um ein Vielfaches. Damit sind visuell, auditiv und auch spielerisch (bspw. mit neuen Physik-Engines) neue Möglichkeiten vorhanden. Dennoch sind gegenwärtig Trends erkennbar, die nichts mit der Hardware-Kapazitäten zu tun haben: Ein veränderter Spieleablauf/Mechanismus.
Inszenierung: Das Stichwort für das moderne Spiel
Im Gegensatz zum Retro-Game fokussiert sich das klassische zeitgenössische Spiel stärker auf Inszenierung. Der erzählten Geschichte wird mehr Platz eingeräumt und wichtige Szenen des Spiels werden den Spielenden als bedeutsam präsentiert. In actionreichen Zwischensequenzen verlangen neue Videospiele des Öfteren eine verstärkte Aufmerksamkeit, wenn du während Quick-Time-Events plötzlich eine Tastenkombination schnell eingegeben musst, damit die Hauptfigur den cineastischen Einschub am Ende auch überlebt.
Nebst dem hat sich das moderne Spiel ein Beispiel am Schwestermedium «Film» genommen und versucht dementsprechend storylastige Szenen weniger statisch darzustellen. Hier im Vergleich: Das Remake (2018) von Secret of Mana (1993).
Die verstärkte Inszenierung findet ebenfalls im direkten Gameplay statt, wie der Fall Final Fantasy VII exemplarisch zeigt:
Im Remake (2020) stehen nicht mehr Lebenspunkte und die verschiedenen Handlungsmöglichkeiten im Zentrum, sondern der Kugelhagel und der Antagonist.
Retro beschreibt keine vergangene Epoche
Und doch gibt es auch heute Spiele, die auf eine cineastische Inszenierung verzichten. Und es gibt Spiele von gestern, die besonders über ihre Erzählung funktionieren. Ein Besuch im Gameorama (oder ein Blick zurück in deine Spielebibliothek) verrät, dass es schon immer Retro-Games gab und immer geben wird. Das reicht von ein paar zerstreuten Retro-Elementen in zeitgenössischen Games (Rune Factory 5), bis hin zu Rollenspielen, die genauso vor zwanzig Jahren hätten erscheinen können (Dragon Quest XI). Retro ist also keine vergangene Epoche; viel mehr beschreibt es konkrete Spielmechaniken, die seit Jahrzehnten existieren (immer noch).
Wie verschieden Spieleentwickler*innen mit den Traditionen der Videospielgeschichte umgehen, macht ein Besuch im Gameorama deutlich. Eine Reise zurück in die Videospielgeschichte ist in diesem Museum so einfach möglich, wie vielleicht nirgends: So viele Konsolen, Arcades und Flipper in einem Raum wirst du selten antreffen.